Wilderness in höchster Potenz

Mittwoch, 27.06.2018

Nein, die Reisegruppe ist nicht verschollen, sondern hielt sich vier Tage lang fernab jeglicher Zivilisation auf.

Anmerkung: Das Ausscheiden der deutschen Fußball-WM-Mannschaft enthebt die Reisegruppe jeglicher Sorge, ein wichtiges Spiel zu verpassen.

Mittwoch, 27.06.2018: Am Morgen Abschied von Christoph, Corinne und Michael und 40 km weiter nach Westen auf dem Chilcotin Bella Coola Highway zum Nimpo Lake. Hier gibt es einen General Store und davor Tanksäulen. Endlich! Und mit 1,60 $ pro Liter Regular auch noch vertretbar. - Auf dem Highway war am Vortag an einer Tankstelle wieder weggefahren worden, weil der Liter dort 7,49 $ kostete. - Übrigens werden die Literpreise nicht an der Straße angezeigt, sondern stehen direkt am Anzeigefeld jeder Tanksäule. Nur war der Tankprozess hier wieder anders. Man hinterlegt seine Kreditkarte an der Kasse, steckt den Tankrüssel ein, drückt einen Hebel an der Säule nach oben und tankt dann.

Am Nimpo Lake befindet sich auch die Basis von Tweedsmuir Air. Ein Wasserflugzeug, eine Cessna 185 mit Platz für den Piloten, drei Passagiere und etwas Gepäck, brachte die beiden Kanadareisenden zur Tetachuck Wilderness Lodge. Der wackelige und holprige Flug in wenigen 100 m Höhe dauerte eine knappe Stunde und für 60 $ zusätzlich flog der Pilot eine ausgeweitete Strecke über die Rainbow Mountains. Am Vortage hatte Regen die Felsen abgewaschen und in der Sonne waren die bunten Sandsteinformationen prächtig anzusehen, als die Maschine in geringer Höhe darüber hinwegbrummte. Übrigens wurde man vom Lärm des einen Motors fast taub. Die seichte Landung erfolgte auf dem langen Tetachuck Lake.

Die Lodge liegt im Nechako Reservoir am Rande des Tweedsmuir Provinzial Parks, ein Urwald von fast 1 Mio. ha Fläche, in dem noch nie Holz geschlagen wurde. Die Lodge existiert seit den 1970er Jahren und wurde nach und nach erweitert. In den 1980er Jahren gehörte die Anlage David Packard (von Hewlett Packard), der sie als Jagdcamp und für Treffen mit Freunden und Managern nutzte. In den 1990er Jahren erfolgte die Umwandlung zur Touristenlodge.

Seit 2011 bewirtschaften die Schweizer Theo(dor) und Katharina Temperli die Anlage; bei unserer Ankunft war auch noch die sehr nette Annelies eine Hilfe. Theo war in der Schweiz als Kellermeister, Katharina und Annelies als Krankenpflegerinnen tätig. Theo und Katharina hatten schon immer eine Neigung zu Kanada und hatten das Land mehrfach als Touristen bereist. Sie haben zwei Söhne, die in der Schweiz leben. Nach wie vor sind beide Schweizer ohne die kanadische Staatsbürgerschaft.

Die Reisegruppe logierte in der Point Cabin, ein Blockhütte an einem kleinen Vorsprung direkt am Ufer des Tetachuck Lakes. Es ist die schönste Hütte der ganzen Anlage und auf zwei Seiten besteht Blick auf den See. Es gibt keinen Stromanschluss (dafür Petroleumleuchten und Kerzen) und kein WiFi, aber eine (sehr kleine) Dusche und warmes Wasser, wofür Gas zum Erhitzen benutzt wird. In einer Ecke des Raumes hängt ein kleiner Behälter, aus dem alle halbe Stunde ein Stoß Flüssigkeit gegen Mücken versprüht wird. Dabei hört man ein katzenartiges Miauen und der Geruch erinnert an Bohnerwachs. Die Lodge verfügt über keine Straßenanbindung, sondern ist nur per Wasserflugzeug oder Boot zu erreichen. Bei Ausfall der Wasserflugzeuge kann auf eine kleine Start- und Landebahn nahe dabei ausgewichen werden. Der Wind ging kalt und die Cabin wird mit einem Ofen beheizt, für den das gut getrocknete Holz selbst gehackt werden muss. Am Tage der Ankunft waren keine weiteren Gäste anwesend, am zweiten Tag kam eine Gruppe von 17 Personen dazu.

Noch am Nachmittag des ersten Tages wanderte unsre Reisegruppe zum Eagle Lake, wo sie einige Zeit auf einer Bank am Ende eines Steges mit Blick auf den gewaltigen Grizzlybluff, der Gipfel mit Schnee bedeckt, verweilte.

Am Abend auf der Bank vor der Cabin direkt am Wasser ging ein kalter Wind, aber den scheuten auch die Mücken. Nach dem gemeinsam mit den Gastgebern eingenommenen Abendessen wurde der Ofen angefeuert; es knackte heimelig. Im Raum schwirrte während der Nacht nur eine einzige Mücke.

Donnerstag, 28.06.2018: Die Mitreisende fühlte sich flau und mochte nicht essen und nicht trinken, blieb in der Cabin und wurde von Katharina betreut, die sich erkundigte, ob Birgit etwas von Homöopathie halte. Der Reiseleiter begab sich alleine auf Expedition und lief den Redfern Trail zu den Stromschnellen, fünf Stunden einsam durch den Urwald, ohne Menschen oder größeren Tieren zu begegnen. Nur ein Geräusch wurde von ihm als das Grunzen eines Bären interpretiert, ohne das Tier gesehen zu haben. Die australischen Outback-Netze, mit denen man als Außerirdischer oder als Imker angesprochen wird, und das Repellent leisteten wieder gute Dienste; dennoch gab es etwas Blutzoll. Mittags traf die 17-köpfige Reisegruppe mit drei Wasserflugzeugen ein.

Beim Abendessen (der Reiseleiter allein) ergab sich die Bekanntschaft mit Richard und seiner Frau, auch eine Birgit, aus Gera; sie sind etwas älter und haben vier Kinder und 15 (!) Enkelkinder. Ein Sohn ist Soziologe, hat über den Einfluss von Umweltschutzorganisationen auf Regierungen promoviert und ist mit einer Kanadierin verheiratet;  beide leben in Ottawa und beide besetzen eine Professur an der dortigen Uni. Weil sie meinen, dass Kinder in Kanada bessere Chancen - sie haben zwei Töchter - als in Deutschland haben, entschieden sie sich für Kanada als Wohnsitz, zum Leidwesen der Großeltern. Das Paar aus Gera schwärmte besonders von einer Reise nach Bhutan,  wo der König bescheiden lebe, für Arbeit für alle seine Untertanen sorge und das Volk auf einem Index für glückliches Leben ganz oben stehe.

Kalt! Abends wurde wieder Holz gehackt und geheizt.

Freitag, 29.06.2018: Bereits in der Nacht setzte Dauerregen ein, der mittags endete. Da machte sich der Waldläufer auf den dreistündigen Moose Lake Trail, wieder einsam durch den Urwald. Die Mitreisende wollte dem Wandersmann Sandwiches zum Mitnehmen aufdrängen, wohl im Wissen, dass die leckeren Wurstbrote von der feinen Nase eines Bären aufgespürt würden. Doch weder Bär noch Moose begegneten dem Waldläufer, nur massenhaft Mücken.

Die Ossi-Reisegruppe war mit einem Boot auf den See hinausgefahren, wohl zur Staumauer, kehrte nach kurzer Zeit wieder um, weil erkannt wurde, dass der Treibstoff nicht ausreichen würde.

Der Mitreisenden ging es allmählich etwas besser. Abends wieder geheizt.

Sonnabend, 30.06.2018: Eine halbe Stunde später als angekündigt traf das Wasserflugzeug ein, wieder eine Cessna 185, aber eine andere als beim Hinflug, auch ein anderer Pilot. Der 40-Minuten-Flug verlief ruhig, doch kurz vor der Landung auf dem Nimpo Lake legte der Pilot eine enge, schräge Kehre hin (unangenehm). Während des Fluges schützten Kopfhörer vor dem Motorenlärm.

Mit dem an der Flugbasis abgestellten Bully2 ging es dann 300 km zurück auf dem wenig befahrenen Chilcotin Bella Coola Highway nach Williams Lake. Unterwegs wurde eine Rast am Bull Canyon des Chilcotin Rivers eingelegt. Die lange Fahrt eignete sich dazu, zwei weitere CDs von "Die Säulen der Erde" anzuhören; was sind doch William von Shiring und Alfred Builder für fiese Charaktere!

Nach fünf Buschtagen werden für eine Nacht alle Annehmlichkeiten im Ramada-Hotel von Williams Lake gerne in Anspruch genommen. Leider fühlt sich die Mitreisende weiter flau, müde, schwindelig und appetitlos und will noch nicht einmal wottsäppen. Von einer Pharmacy werden caplets d'ibuprofene besorgt. Der Reiseleiter läuft noch etliche Zeit durch Williams Lake; auf einen Besuch des Chilcotin-Museums und andere Aktivitäten wird angesichts der Umstände verzichtet.

Die Tage in der Wildnis möchte man wegen der vielen Unzulänglichkeiten nicht dauernd erleben, schon alleine wegen der weit entfernten medizinischen Versorgung, aber es war eine interessante Erfahrung und die Gegend um den Tetachuck Lake ist unberührte Natur, ein kleines Paradies, wie es Katharina und Theo empfinden.

Tagsüber 15 bis 20 ºC und Wolken, Sonne und leichter Regen im Wechsel. Immerhin nicht eine einzige Mücke in Williams Lake entdeckt.